Kindergeld für ein erkranktes Kind
veröffentlicht am: 2. März 2021
Ein Kind unter 25 Jahren, das wegen einer Erkrankung keine Berufsausbildung beginnen kann, ist nur dann als ausbildungsplatzsuchendes Kind zu berücksichtigen, wenn das Ende der Erkrankung absehbar ist.
Hintergrund: Verhinderung an der Ausbildung wegen Erkrankung
Der noch nicht 25-jährige Sohn (P) brach in der 11. Klasse die Schule ab, nachdem er bereits seit Jahren Drogen genommen hatte. Seit Frühjahr 2015 befand er sich in Therapie. Im Juni 2017 hatte sich sein Zustand soweit verbessert, dass er ein Praktikum absolvieren konnte.
Im Juli 2017 beantragte der Vater (V) Kindergeld für P. Er legte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für P vor sowie eine Erklärung des P, dass er sich um einen Ausbildungsplatz bewerben werde. Aus ärztlichen Nachweisen ging hervor, dass P seit September 2016 erkrankt und das Ende der Erkrankung nicht absehbar bzw. zunächst auf Jahresende 2017 anzunehmen war.
Die Familienkasse lehnte Kindergeld für August 2015 bis Mai 2017 ab. Das FG gab der Klage statt. P sei als Kind, das eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht habe beginnen können, zu berücksichtigen (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG). Für ein Kind, das seine Ausbildung wegen einer Erkrankung nicht fortsetzen könne, werde Kindergeld gezahlt. Das Gleiche müsse gelten, wenn eine Ausbildung wegen einer Erkrankung gar nicht begonnen oder gesucht werden könne.
Entscheidung: Allein der Wille, sich um einen Ausbildungsplatz zu bemühen, genügt nicht
Der BFH widerspricht dem FG. Die allgemeine Ausbildungswilligkeit des Kindes reicht nicht aus. Der BFH verwies den Fall an das FG zurück. Das FG hat zu prüfen, ob P als behindertes Kind (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG) berücksichtigt werden kann.
Grundsätzliche Berücksichtigung mangels Ausbildungsplatzes
Nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG wird ein Kind berücksichtigt, das eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht beginnen oder fortsetzen kann. Kinder, die einen Ausbildungsplatz suchen, sollen mit denen, die bereits einen Ausbildungsplatz gefunden haben, gleichgestellt werden. Dies setzt aber voraus, dass der Beginn der Ausbildung nicht an anderen Umständen als dem Mangel eines Ausbildungsplatzes scheitert (BFH v. 13.6.2013, III R 58/12, BStBl II 2014, 834). In der Person des Kindes liegende Gründe, die der Berufsausbildung entgegenstehen, schließen daher die Berücksichtigung beim Kindergeld aus, z.B. wenn die Voraussetzungen für den angestrebten Studiengang nicht erfüllt sind (BFH v. 15.7.2003, VIII R 71/99, BFH/NV 2004, 473) oder wenn ausländerrechtliche Gründe einer Berufsausbildung entgegenstehen (BFH Urteil v. 7.4.2011, III R 24/08, BStBl II 2012, 210).
Verhinderter Ausbildungsbeginn aus Krankheitsgründen
Ist ein Kind aus Krankheitsgründen gehindert, einen Ausbildungsplatz zu suchen, reicht die allgemeine (auf eine künftige Berufsausbildung gerichtete) Ausbildungswilligkeit für die Berücksichtigung eines Kindes – entgegen der Auffassung des FG – nicht aus. Vielmehr muss das Ende der Erkrankung absehbar sein. Denn nach einer gewissen Zeit schließt die krankheitsbedingte Unterbrechung der Suche nach einem Ausbildungsplatz die Berücksichtigung des Kindes als arbeitsplatzsuchend aus. Dementsprechend hat der BFH zur Unterbrechung der Ausbildungsplatzsuche auf die regelmäßig auf 14 Wochen beschränkten Fristen nach dem MuSchG hingewiesen. Die Frage, ab welcher Zeitdauer die Erkrankung eines Kindes dessen Berücksichtigung ausschließt, hat er offengelassen (BFH v. 13.6.2013, III R 58/12, BStBl II 2014, 834).
Das Ende der Erkrankung war im Streitfall nicht absehbar
Hiervon ausgehend war P unter dem Gesichtspunkt der Ausbildungsplatzsuche nicht zu berücksichtigen. Die Zeit bis zur Aufnahme einer künftigen Berufsausbildung war keine Frage von Wochen oder Monaten. Denn sowohl der behandelnde Arzt als auch der behandelnde Psychologe gaben im Klageverfahren an, dass das Ende der Erkrankung nicht absehbar sei. Somit war im Streitzeitraum auch der Beginn einer Berufsausbildung nicht absehbar. Eine Berücksichtigung nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG scheidet damit aus.
Möglicherweise Berücksichtigung als behindertes Kind
Fälle, in denen ein Kind aus Gesundheitsgründen dauerhaft gehindert ist, eine Berufsausbildung oder Erwerbstätigkeit aufzunehmen und deshalb unterhaltsberechtigt ist, werden durch § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG gesetzlich typisiert. Danach ist ein Kind zu berücksichtigen, das wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, sofern die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist. Der Begriff der Behinderung orientiert sich am Sozialrecht (BFH v. 19.1.2017, III R 44/14, BFH/NV 2017, 735). Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist Voraussetzung für die Annahme einer Behinderung, dass eine Beeinträchtigung mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert. Dementsprechend sind die Voraussetzungen einer Behinderung regelmäßig erfüllt, wenn das Ende einer der in § 2 Abs. 1 SGB IX aufgezählten Beeinträchtigungen, die ein Kind daran hindert, sich um eine Berufsausbildung zu bemühen, nicht absehbar ist. Somit kommt im Streitfall die Berücksichtigung des P unter dem Gesichtspunkt einer vor dem 25. Lebensjahr eingetretenen Behinderung mit der Folge, dass er außerstande war, sich selbst zu unterhalten, in Betracht. Der BFH verwies die Sache zur weiteren Aufklärung an das FG zurück. Dieses hat zu prüfen, ob P als behindertes Kind zu berücksichtigen ist.
Hinweis: Problematik rückwirkender Bescheinigungen
P hatte die schriftliche Erklärung zur Glaubhaftmachung seiner Absicht, sich zum nächstmöglichen Termin um einen Ausbildungsplatz zu bewerben, erst im Juni 2017, somit nach dem streitigen Kindergeld-Zeitraum, abgegeben. Damit stellt sich die Frage, ob die Erklärung auf den Streitzeitraum zurückwirkt. Nach A 17.2 Abs. 1 Satz 4 i.V.m. V 6.1 Abs. 1 Satz 8 DA-KG wirkt eine Erklärung, die eine Absicht glaubhaft machen soll, nur ab dem Zeitpunkt des Eingangs der Erklärung bei der Familienkasse. Der BFH konnte die Frage der Rückwirkung offenlassen, da es im Streitfall nicht darauf ankam.
Quelle: BFH, Urteil v. 12.11.2020, III R 49/18; veröffentlicht am 25.2.2021